Aus dem Tagblatt vom 20.12.2001 © St. Galler Tagblatt AG
Marcel Reich-Ranicki war es, der als Erster aus Literatur einen Unterhaltungswert presste. Sein Abtreten kompensieren in Zürich eine ganze Reihe neuer Literatur-Shows.
von Sibylle Stillhart
Ein Dienstagabend im Dezember. Das Zürcher Jazzlokal «Moods» im hippen Kreis 5 ist bis auf den letzten Platz gefüllt, die Bar in Vollbetrieb. Der Geräuschpegel sinkt schlagartig gegen null, als punkt neun Uhr die «Litterband» ihre Höllenmaschine in Fahrt setzt und Gion Mathias Cavelty, Bündner Schriftsteller, zusammen mit Martin Walker, Redaktor beim «Schweizer Buchhandel», ins Scheinwerferlicht tritt: Auftakt zur vierten «Literatur-Show», die jeden zweiten Monat stattfindet und sich in der Zürcher Kulturszene bereits etabliert hat.
Im Supermarket
Literatur ist derzeit in Zürich «Trend», zahlreiche Happenings konkurrenzieren sich: So bietet das Kleintheater «Keller 62» diverse literarische Veranstaltungen an, während das Literaturhaus am Limmatquai mit Lesungen von angesehenen Autoren lockt. Die «1. lange Nacht der kurzen Geschichten» - vom Zürcher Buchhändler- und Verlegerverein (ZBW) initiiert - führt die Liste der Veranstaltungen fort: 70 Lesungen fanden in Buchhandlungen und überfüllten Trams statt. Von Caveltys Show inspiriert, rief zudem der Zürcher Martin Otzenberger - bekannt als Veranstalter von «Poetry Slams» - im November die erste «Kulturbar» im Supermarket-Club ins Leben. Viermal im Monat werden Autoren geladen, die sich etwa mit dem Thema «Literatur - just for fun?» auseinander setzen sollen.
Schiessen mit Bronfen
«Literatur soll Spass machen und nicht mittels staubtrockenen Vorlesungen vermittelt werden», sagt Talkmaster Cavelty. Er will die Zuschauer mit «Show-Einlagen» unterhalten und trotzdem «den Wert der Literatur nicht verkennen». Dem Publikum gefällts, wie der überfüllte Saal im «Moods» zeigt, wo es auch einmal schräg zu und her gehen kann: Linus Reichlin, «Weltwoche»-Kolumnist, Elisabeth Bronfen, Englisch-Professorin an der Uni Zürich, und der taiwanesische Krimiautor Wen-Huei Chu sitzen auf dem Sofa. Daneben liegt das Christkind tot auf dem Boden. Cavelty und Walker verhören die Gäste, auf der Suche nach dem Mörder. Mit Humor wird zudem über «das Erleben von Literatur» geplaudert, dabei werden schon einmal Einzelheiten aus dem Privatleben der Anwesenden verraten: Elisabeth Bronfen gerät ins Schwärmen, wenn sie von ihrer Leidenschaft, dem Schiessen, erzählt. Applaus. Und während Vorbild Reich-Ranicki seinen Quartettsessel räumt, geht die Show in Zürich weiter: Derzeit wird für das Frühjahr ein dreitägiges Literaturfestival «mit grossen Namen und ungewöhnlichen Orten» geplant, wie Initiant Claudius Wirz sagt. Sein Rezept: 80 Prozent Literatur und 20 Prozent Musik. Noch werden allerdings Sponsoren gesucht.