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© Facts, 2001-11-08; Seite 144; Nummer 45

Mehr als nur Worte

Bücher sind nicht nur etwas für das stille Lesezimmer. Von Autoren und Schauspielern werden sie ins Rampenlicht gehievt und neuerdings auf vielerlei Art dem Publikum präsentiert.
Von Daniel Arnet 

Der Mann sitzt lässig auf dem Konzertflügel und liest laut aus Robert Ludlums Thriller "Der Matarese-Bund". Auf seinem Hocker nickt der Pianist kurz ein, da hebt der Vorleser seine Stimme, schaut vom Buch auf und rezitiert: "... und will ihn zum Zuhören zwingen." Der Pianist schreckt auf und klimpert artig ein paar jazzige Takte. Danach geht die Lesung in die nächste Runde.

Ein Marathon steht an: Gut drei Stunden liest Andreas Thiel aus Ludlums 600-Seiten-Wälzer und wird dabei musikalisch von seinem Kabarettpartner Jean Claude Sassine begleitet. In den Rängen des Winterthurer Theaters am Gleis sitzen junge Leute und horchen auf das Knistern der Spannung.

Die Literatur hat die engen vier Mauern der Lesestube verlassen und mischt sich unters Volk. Sie ist von der Alleinunterhalterin zur Massenentertainerin geworden. Allein diesen Monat finden in der Deutschschweiz rund hundert öffentliche Lesungen in Literaturhäusern, Bibliotheken und Buchhandlungen statt.

In den Geschäften gebärdet sich die Literatur häufig als billige Nutte, die sich bloss verkaufen will. Doch neuerdings verkleidet sie sich auf vielfältige Weise: Mal kommt sie als säuselnde Muse, mal als witzige Verführerin oder als betörende Sängerin daher. Das kommt an: Vorletzte Woche strömten beispielsweise bei der "1. langen Nacht der kurzen Geschichten" in Zürich Tausende zu den rund 70 Lesungen.

Christian Kracht präsentierte dabei sein neues Werk zusammen mit DJs, wie das Wladimir Kaminer schon erfolgreich vorgemacht hatte. Musik ist nämlich eine beliebte Begleiterin der Literatur. Alte Grössen wie Günter Grass oder Peter Rühmkorf treten jeweils mit Jazzmusikern auf. Das wirkt so schön intellektuell.

Das Jazzlokal "Moods" im Zürcher Schiffbau ist daher ein passender Ort für einen Literaturabend. "Ein genialer Platz", sagt der Bündner Schriftsteller Gion Mathias Cavelty. Er veranstaltet dort seit diesem Jahr alle zwei Monate eine Literaturshow zusammen mit Martin Walker, Redaktor beim "Schweizer Buchhandel". Doch die Töne, die im "Moods" angeschlagen werden, sind hart. "Litterband" heisst die Hardrock-Gruppe, die durch den Abend führt. Ihr Name zeigt, wie nahe Abfall und Literatur sind - zumindest im Englischen. In den Kübel wandert hier die hehre Literatur, und das, was im literarischen Kanon als Abfall gilt, wird auf der Bühne präsentiert. "Unsere Show soll ein Forum sein für Genres und Gattungen, die sonst vom Literaturbetrieb ignoriert werden", sagt Cavelty. Ob Horrorbücher oder Kioskheftchenromane - in der Literaturshow werden sie thematisiert.

Marie-Louise Marjan, die Mutter Beimer aus der "Lindenstrasse", liest via CD aus dem neuen Roman "Wintersonne" von Rosamunde Pilcher vor. Ihre süsse Stimme wird ausgeblendet, und die Litterband zerschlägt den Zuckererguss. Gemäss der Autorin sei dieses Buch "eine Liebeserklärung an das Leben", sagt das Moderatorenduo Cavelty/Walker lakonisch und begrüsst das Publikum zur dritten Literaturshow. "Die schöne Welt der Rosamunde Pilcher", heisst das Thema des Abends. Doch an den Tischchen sitzen nicht ältere Damen bei Kaffee und Kuchen und träumen vom harmonischen Leben der Pilcher-Bücher, sondern über hundert junge Leute, die an ihrem Bier nippen oder an der Zigarette ziehen und sich auf einen witzigen Abend freuen. Lotte Fleury, die Präsidentin des Rosamunde-Pilcher-Fanklubs Schweiz, hat sich als Talkgast in die Höhle des Löwen gewagt.

Die betagte Frau versinkt beinahe im Sofa auf der Bühne, wirkt zunächst unfreiwillig komisch, doch im Laufe des Gesprächs zeigt sie sich durchaus selbstironisch und wippt am Schluss sogar zur Musik der Litterband. Die belustigende Romantikerin wird zur lustigen Alten. Das Publikum schliesst sie ins Herz.

"Wir wollen Menschen einladen, die das Publikum interessant findet und auch von anderswo kennt", sagt Cavelty. "Dort wollen wir ansetzen und Bezüge zur Literatur suchen." Nachdem die Seite 17 aus der Diplomarbeit von Thomas Bucheli vorgelesen wurde, wechseln die Moderatoren von der "Neuschneedichte zum Neuschneedichter" und plaudern mit dem Wetterfrosch über die Meteolyrik.

Was die Literaturshow für die Jungen, ist der Bernhard-Littéraire für die Alten - ein moderierter Literaturanlass. Der Krimiautor Peter Zeindler unterhält sich Monat für Monat am frühen Montagabend auf der Zürcher Boulevard-Bühne nacheinander mit drei Sachbuch- oder Belletristik-Autoren. Unterhält sich - und nicht das Publikum, denn was Zeindler hoch oben auf der Bühne treibt, ist reichlich abgehoben.

Mit dem Gesicht seinem ersten Gast Urs Faes zugewandt, blickt er kaum je zu den Zuschauerinnen und Zuschauern. Zeindler verbündet sich mit dem Autor und spricht mit ihm per Du. "Wir schreiben vor uns hin", sagt er zum Talkgast und will sich damit auch als Schriftsteller in Szene setzen. Die Worte von Faes gehen dagegen beinahe unter. "Urs, du musst mehr ins Mikrofon sprechen, sonst ist die Tonqualität schlecht", ruft Thomas Hürlimann seinem Kollegen vom Bühnenrand her zu. Denn da ist noch ein gut 250-köpfiges Publikum, vor allem ältere, herausgepützelte Damen, die auch etwas hören wollen.

Durch den frühen Zeitpunkt - der Bernhard-Littéraire beginnt jeweils um 18 Uhr und endet anderthalb Stunden später - ist der Anlass mit seiner Bistro-Atmosphäre für manche ein Apéro-Häppchen. "Ich weiss von vielen, die sich im Littéraire treffen und anschliessend gemeinsam essen gehen", sagt Ruth Binde, die 1985 zusammen mit Theaterdirektor Eynar Grabowsky den Bernhard-Littéraire auf die Bühne brachte.

Früher wollte Binde Schauspielerin werden, nun hat sie das Gefühl, selbst ein Theater zu haben. "Seit ich den Bernhard-Littéraire mache, bin ich verdorben für die konventionellen Lesungen", sagt sie, "denn häufig ist es so, dass Autoren schlecht vorlesen." "Autoren haben nicht die Distanz zu ihren Geschichten und auch nicht das Know-how des Erzählens", sagt auch Patrick Neuenschwander, der zusammen mit Sara Burri das jährliche "Litera'thur"-Festival in Winterthur veranstaltet. Die Texte der letzten fünf Aufführungen wurden deshalb fast ausschliesslich von Theater-Schauspielerinnen und -Schauspielern gelesen.

Zum diesjährigen Thema Amerika las Wolfram Berger "Fleischeslust" von T. C. Boyle, Martin Schwab "Schlagschatten" von Paul Auster und Therese Affolter Kurzgeschichten von Sylvia Plath. Und Andreas Thiel las - wie gesagt - einen ganzen Thriller von Robert Ludlum.

Diese Marathonlesung war ein Versuch. Neuenschwander und Burri sind ständig auf der Suche nach neuen Formen, mit denen man Literatur in die Öffentlichkeit bringen kann. "Wir wollten nie typische, klassische Lesungen veranstalten", sagt Neuenschwander, und er hat mit dieser Strategie Erfolg. Er schätzt, dass 70 Prozent der Besucherinnen und Besucher von "Litera'thur" normalerweise nicht an Lesungen gehen.

"Das Publikum wird jedes Jahr jünger", sagt Neuenschwander. Und er weiss, wie er diese neuen Literaturinteressierten auch nächstes Jahr anlocken kann. "Lesungen mit Film bringen einen Drive rein."

"Schattwand" heisst das Buch, doch an der Wand sind Lichtbilder zu sehen: ein Wolf in einer Schneelandschaft, eine Lawine, die auf die Betrachter niederstürzt. Mit Migrossäcken stolpern Neugierige durch den dunklen Tolstoi-Saal in der obersten Etage des Buchhauses Stocker in Luzern. Von einem rührigen Buchhändler werden sie auf die freien Plätze gewiesen. Gut hundert Personen schauen gebannt auf die Videobilder. Aus den unteren Etagen hört man Geräusche des Geschäftstreibens.

Der Film bricht ab, drei Leselampen werden angeknipst. Die Fernsehstimme von Thomas Stuckenschmidt spricht in perfektem Deutsch eine Textpassage aus "Schattwand", die sich wie ein Kommentar auf die eben gesehenen Bilder ausnimmt. Die Fernsehfrau Monika Schärer und der Autor Urs Augstburger lesen die Dialoge aus dem Roman. "Buch-Performance mit Video-Sequenzen", nennt Augstburger diese szenische Lesung.

"Kaufen Sie Bücher - dem Autor zuliebe", sagt der Buchhändler, "lassen Sie sich seinen neuen Roman signieren." Der Appell fruchtet wenig: Der Büchertisch mit ein paar Dutzend Exemplaren von "Schattwand" bleibt nahezu unberührt. "Früher haben die Leute nach einem Bernhard-Littéraire für tausend Franken Bücher gekauft", sagt Ruth Binde. "Das ist deutlich zurückgegangen." So eigenständig und originell eine Literaturveranstaltung daherkommt, der Büchertisch macht deutlich, dass eine Lesung auch immer eine Werbeveranstaltung für das eben gehörte Buch ist.

Die Bücher stapeln sich auch im Literaturhaus Basel. Die deutsche Jungautorin Julia Franck ist angesagt und liest aus ihrer Erzählsammlung "Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen". Doch die Schriftstellerin ist nicht zum Anfassen. Unnahbar wirkt sie, setzt sich auf das Podium und liest während vierzig Minuten hochkonzentriert aus "Bauchlandung" vor, ohne einmal vom Buch aufzusehen. Die rund dreissig jungen Zuhörerinnen und Zuhörer hängen der Autorin an den Lippen, konzentrieren sich auf ihre eigenen Finger oder stützen mit der Hand die Stirn. In Reih und Glied sitzen sie da, schauen auf das altarmässige Rednerpult mit dem Blumenbouquet darauf, auf die weisse Wand dahinter - die Stimmung ist wie in einer protestantischen Kirche. "Die elitären Literaturzirkel von früher sind vorbei", sagt Patrick Neuenschwander von "Litera'thur". Doch diese klassische Leseveranstaltung des Literarischen Forums Basel zeigt, dass Literatur immer noch langweilig und abgehoben daherkommen kann.

"Ich möchte Ihnen anbieten, etwas zu sagen", sagt Franck nach der Lesung. Stille. Dann stellt ein Mann eine lange, komplizierte Frage und schliesst: "Können Sie dazu etwas sagen?" Die Autorin windet sich wortreich und gibt die Frage zurück: "Vielleicht fällt Ihnen dazu etwas ein." Das ist nicht der Fall, und so schliesst Franck mit den denkwürdigen Worten: "Wenn Sie möchten, können wir aufstehen." Amen.

Von der protestantischen Andacht ins katholische Pfarreizentrum: In Kilchberg liest Klaus Bartels unter anderem aus seinem neuen Buch "Wie die Murmeltiere murmeln lernten". Wie ein Pfarrer steht der gewitzte Autor leicht erhöht vor dem Mikrofon und gibt ein "kunterbuntes Wörter-Abc" zum Besten, in dem er Buchstabe für Buchstabe Wörtern auf den Grund geht. "Sind Sie schon proaktiv?" fragt er rhetorisch das Publikum. "Bringen Sie das Wort an einer Party wie nebenbei ein, seien Sie kein Sprachmuffel, sagen Sie, Ihr Chef sei proaktiv." Die rund hundert Zuschauer amüsieren sich. Die Veranstaltung des Lesevereins Kilchberg ist ein richtiges Dorftreffen der Ortsweisen: Man zeigt sich hier, um Belesenheit zu beweisen. Bei einem Glas Wein kaufen sich die Zuschauer ein Buch. Die abendliche Massen-Entertainerin Literatur kehrt so in die Lesestuben zurück und wird wieder eine stille Alleinunterhalterin.